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Certum Abyssum

Abgründe der Gewissheit

Diese Rubrique ist solchen Betrachtungen gewidmet, in welchen vermeintliche Wahrheiten ins Wanken geraten und der Geist sich genötigt sieht, die gewohnte Komfortzone seiner Überzeugungen zu verlassen. Hier wird eine elegante Expedition ins Ungewisse unternommen – nicht, um Trost zu spenden, sondern einzig um der Erkenntnis willen.

Die leise Kunst, nicht zu blenden – Fragmente einer Echtheit

„Mundus vult decipi, ergo decipiatur.“ — Sebastian Brant

Die Hygiene der Seele

Man pflegt zu meinen, die Reinlichkeit des Geistes sei eine Frage der guten Herkunft – ähnlich wie das diskrete Händewaschen nach dem Essen oder das Wechseln der Wäsche, bevor sie anfängt zu müffeln. Doch wer sich im Kreise der sogenannten Ehrbaren umsieht, bemerkt rasch: Während die Fingerspitzen stets makellos erscheinen, bleibt das Gewissen mitunter erstaunlich unpoliert.

Alltagshygiene wird zelebriert, als hinge das Wohl der Zivilisation daran – und möglicherweise tut es das ja auch. Doch wer sich an die Hygiene der Seele wagt, stößt rasch auf gesellschaftliche Vorbehalte. Es gilt als wenig schicklich, allzu viel von sich preiszugeben, geschweige denn, die eigenen Motive unter das Mikroskop zu legen. Wer allzu gründlich wäscht, läuft Gefahr, als Nestbeschmutzer zu gelten – und das ist bekanntlich der erste Schritt zur gesellschaftlichen Unsichtbarkeit.

Walther von der Vogelweide – Der feine Spott der Echtheit

Nachdem wir uns der Kunst der alltäglichen und seelischen Hygiene gewidmet haben, wenden wir uns nun jenen Zeiten zu, in denen Aufrichtigkeit keineswegs als Tugend galt, sondern eher als riskanter Luxus. Es sind die Jahrhunderte, in denen ein kluger Kopf mehr benötigte als saubere Hände – nämlich eine gehörige Portion Mut und, nicht zu vergessen, ein gewisses Talent zur feinen Andeutung.

Wir befinden uns im Europa des Jahres 1200, einer Welt, in der das Streben nach Echtheit nicht mit Applaus, sondern allenfalls mit einem kühlen Platz am Kamin belohnt wurde. Hier beginnt unsere Feldforschung bei Walther von der Vogelweide, dessen Lieder bis heute einen Nachhall von Unabhängigkeit und kluger Selbstbehauptung tragen.

Walther von der Vogelweide – man verzeihe, wenn ich an dieser Stelle ein wenig ins Schwärmen gerate – war keineswegs ein gewöhnlicher Reimschmied, der sich mit höfischem Beifall begnügte. Während die Gesellschaft sich in ihren steifen Konventionen sonnte und das Authentische vorzugsweise hinter schweren Gobelins versteckte, erlaubte sich Walther, gelegentlich einen Blick hinter die Fassade zu werfen.

Seine Lieder – stets von untadeliger Form und doch mit einer Prise sublimer Bosheit gewürzt – waren weniger Liebesbeteuerung als höfisch getarnte Gesellschaftsanalyse. Wer sie aufmerksam goutierte, entdeckte darin nicht selten einen feinen Spott, der selbst den steifsten Hofherren ein diskretes Zucken im Mundwinkel abrang.

Man mag einwenden, Herr von der Vogelweide habe sich mit seinen Versen bei den Damen beliebt machen wollen. Doch wer das behauptet, hat vermutlich nie verstanden, wie wenig Einfluss ein kokettes Lächeln auf die Verteilung der Lehen hatte. Walther schrieb, weil er es konnte – und weil er es wagte, nicht immer das Erwartete zu liefern. Das, wehrte Herrschaften, ist eine Kunst, die selbst in den besten Kreisen selten geworden ist.

Hartmann von Aue – Die stille Größe des Zweifelns

Nachdem wir uns mit gebührender Bewunderung dem Herrn von der Vogelweide zugewandt haben – einem Mann, dessen Verse selbstverständlich weit über das gewöhnliche Maß hinausgingen und dessen Unabhängigkeit bis heute als leuchtendes Beispiel für Charakterstärke gilt –, ist es nur folgerichtig, nun einen weiteren Namen zu würdigen, der dem Mittelalter einen Hauch von Geist und Tiefe verlieh.

Hartmann von Aue – man verzeihe, wenn ich an dieser Stelle keinerlei falsche Bescheidenheit an den Tag lege – war ein Dichter von jener seltenen Sorte, die sich nicht mit dem bloßen Abbilden der Welt zufriedengibt. Nein, er forderte mehr: Einsicht, Haltung, Größe. Während andere sich im Glanz der Tagesmeinung sonnten, bevorzugte Hartmann die stille Arbeit an der Substanz des Menschlichen. Seine Gestalten sind keine Marionetten der Umstände, sondern Persönlichkeiten, die, wie es sich für eine wahrhaft aristokratische Betrachtung ziemt, das Schicksal mit erhobenem Haupt und einer Spur Skepsis betrachten.

Es ist diese Haltung – das stille Beharren auf Echtheit, das souveräne Übersehen des Mittelmaßes –, die unsere Feldforschung so reizvoll macht. Denn, wehrte Herrschaften, wer sich mit weniger als dem Besten zufriedengibt, hat den Sinn für das Wesentliche längst verloren.

Nachdem wir uns an der stillen Größe Hartmanns von Aue gelabt haben – einer Größe, die sich nicht im lauten Wort, sondern in der Beharrlichkeit des Charakters zeigt –, spüren wir bereits einen leisen Wandel in der Luft. Die Welt beginnt, sich zu weiten; das Licht fällt nun nicht mehr nur durch die bunten Fenster der Klöster, sondern bricht sich in den Straßen der Städte, in den Schreibstuben der Gelehrten, auf den Märkten der Gedanken.

Jakob Wimpfeling – Der intellektuelle Trüffel der Renaissance

Es ist jene Schwelle, an der das Streben nach Echtheit eine neue Gestalt annimmt: Nicht mehr allein das Ringen mit dem eigenen Inneren steht im Vordergrund, sondern der Anspruch, das Leben selbst – Bildung, Gesellschaft, Moral – einer Prüfung zu unterziehen. Und siehe, wehrte Herrschaften, genau hier tritt ein Mann auf, der wie kaum ein anderer für diesen Aufbruch steht: Jakob Wimpfeling.

Wimpfeling, ein Sohn des ausgehenden Mittelalters und doch schon ganz dem Geist der kommenden Zeit verpflichtet, verstand es, das Erbe der Vergangenheit mit dem Hunger nach geistiger Erneuerung zu verbinden. Seine Feder war geschärft für die großen Fragen: Wie bildet man nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz? Was bedeutet es, in einer Zeit des Wandels Haltung zu zeigen? Und wie bleibt man sich selbst treu, wenn die Welt um einen herum sich neu erfindet?

Jakob Wimpfeling – der Name allein klingt, man verzeihe mir die aristokratische Offenheit, eher nach einem verwunschenen Waldpilz als nach einem der schärfsten Geister seiner Zeit. Man könnte beinahe meinen, man finde ihn an nebligen Herbstmorgen, versteckt zwischen Moos und Laub, statt in den ehrwürdigen Schreibstuben des ausgehenden Mittelalters.

Doch wer sich von solch märchenhaften Assoziationen täuschen lässt, verkennt den wahren Wert dieses seltenen Fundes. Denn Wimpfeling, so unscheinbar der Klang, so unüberhörbar die Wirkung: Seine „Adolescentia“ war ein Aufruf zur geistigen Selbstzucht, seine Satiren ein Spiegel, in dem so mancher Zeitgenosse lieber nicht zu lange verweilte. Er war, wenn man so will, ein intellektueller Trüffel – schwer zu entdecken, aber von nachhaltigem Wert für alle, die sich auf die Suche nach echtem Geschmack machen.

Für Wimpfeling war Bildung kein modisches Accessoire, sondern eine Frage der Würde. Wer, so seine Überzeugung, die Jugend bilde, möge ihr nicht nur Fakten vermitteln, sondern vor allem Haltung und Wahrhaftigkeit. Ein Standpunkt, der in einer Zeit, in der das schnelle Urteil oft mehr gilt als die gründliche Überlegung, beinahe revolutionär anmutet.

So schreitet unsere Feldforschung weiter, vom stillen Glanz des Mittelalters zur feinen Würze der Renaissance. Und, wehrte Herrschaften, wer sich mit weniger als gedanklicher Brillanz zufriedengibt, dem sei gesagt: Manches Wertvolle wächst eben im Verborgenen – und entfaltet seinen wahren Geschmack erst, wenn man sich die Mühe macht, es zu heben.

Thomas Morus – Der unbestechliche Moralist auf dem Schafott der Geschichte

Kaum hat sich der feine Duft des intellektuellen Trüffels Wimpfeling verzogen, weht uns schon eine Brise von der britischen Insel entgegen, durchdrungen von Prinzipientreue und jener seltenen Mischung aus Witz und Standhaftigkeit, die man entweder hat – oder eben nicht. Thomas Morus, geboren 1478, ist eine jener Figuren, die selbst im Schatten des Schafotts Haltung bewahren, als wäre es bloß ein weiteres höfisches Zeremoniell.

Morus, dessen Name in den Annalen der Integrität mit Goldtinte vermerkt steht, war kein Freund der halben Sachen. Während andere sich mit dem Wind der Macht zu drehen wussten, blieb er unbeirrbar dem eigenen Kompass verpflichtet. Sein berühmtes „I die the King’s good servant, and God’s first“ ist nicht nur eine signature phrase, die die Jahrhunderte überdauert hat, sondern der schlichte Ausdruck einer Überzeugung, die sich weder kaufen noch beugen ließ.

Sein „Utopia“ – ein Werk, das noch heute in den besseren Bibliotheken einen Ehrenplatz beansprucht – ist mehr als ein philosophischer Tagtraum. Es ist eine feinsinnige Satire und ein Prüfstein für alle, die sich mit dem bloßen Schein politischer Klugheit nicht zufriedengeben. Morus entwirft darin eine Gesellschaft, in der Gemeinwohl und Bildung höher stehen als Besitz und Eitelkeit – ein Gedanke, der damals wie heute gleichermaßen für bewunderndes Kopfschütteln wie für verstohlene Sehnsucht sorgt.

Doch, wehrte Herrschaften, das wahre Meisterstück des Thomas Morus bleibt seine Standfestigkeit angesichts der Versuchung. Als Heinrich VIII. den Eid verlangte, verweigerte Morus mit jener Mischung aus Höflichkeit und Unnachgiebigkeit, die nur den Besten gelingt. Der Preis war hoch – das Haupt fiel, doch der Name blieb unbefleckt.

So schreitet unsere Feldforschung weiter, von den moosbedeckten Trüffeln des Humanismus zu den Granitblöcken der Integrität. Wer sich mit weniger als dieser Größe zufriedengibt, dem sei gesagt: Die Geschichte kennt viele Namen, aber nur wenige, die man mit solchem Respekt auszusprechen pflegt.

Michel de Montaigne – Der Gentleman der Selbstprüfung

Kaum ist das Haupt des Sir Thomas Morus gefallen – mit einer Würde, die selbst den Henker kurz innehalten ließ –, öffnet sich bereits das Portal zu einer ganz anderen Bühne der Echtheit: dem privaten Studierzimmer, in dem ein französischer Edelmann mit Feder und Skepsis neue Wege der Selbsterkundung beschreitet. Michel de Montaigne, geboren 1533, ist jener seltene Fall, in dem ein Mensch es wagt, sich selbst zum Gegenstand seiner Betrachtung zu machen – und dies mit einer Nonchalance, die bis heute ihresgleichen sucht.

Während andere sich mit der Welt abmühten, zog sich Montaigne in seine berühmte Turmbibliothek zurück und begann, das größte aller Abenteuer zu wagen: die ehrliche Selbsterforschung. „Que sais-je?“ – „Was weiß ich?“ – wurde zur Leitfrage seines Denkens. Keine Pose, kein Blendwerk, sondern die unermüdliche Suche nach dem, was im eigenen Innersten Bestand hat.

Seine Essais, geschrieben mit der Leichtigkeit eines Mannes, der weder gefallen noch belehren will, sind ein Fest der Aufrichtigkeit. Montaigne malt sich selbst „in einfacher, natürlicher und alltäglicher Weise“, wie er betont – und lädt seine Leser ein, es ihm gleichzutun. Wer seine Seiten aufschlägt, begegnet keinem Lehrmeister, sondern einem Gefährten auf dem Weg durch die Windungen des eigenen Geistes.

Doch Montaigne wäre nicht Montaigne, wenn er nicht auch den Zweifel zu seinem Verbündeten gemacht hätte. „Wir sind, weiß ich nicht wie, innerlich doppelt, so dass wir das, was wir glauben, zugleich anzweifeln.“ In einer Zeit, in der Dogmen und Gewissheiten hoch im Kurs standen, war dies nichts weniger als ein Akt der geistigen Souveränität. Man möchte fast meinen, ein gewisser C. Jung hätte an dieser Stelle entzückt die Ohren gespitzt – schließlich ist die innere Zwiespältigkeit des Menschen ein Thema, das in Zürich später noch ganze Bibliotheken füllen sollte.

So, wehrte Herrschaften, finden wir in Montaigne einen Meister der Echtheit, der uns lehrt, dass Authentizität nicht im lauten Bekenntnis, sondern im stillen, manchmal widersprüchlichen Dialog mit uns selbst gedeiht.

René Descartes – Der Melancholie-Narzisst als Mahnmal der Unechtheit

Kaum haben wir die lichte Klarheit Montaignes verlassen, stolpern wir im 17. Jahrhundert über einen Denker, der das Kreisen um das eigene Ich zur olympischen Disziplin erhob: René Descartes, der unangefochtene Melancholie-Narzisst der Philosophiegeschichte.  Schon zu Beginn seines berühmten Discours de la méthode lässt er uns wissen: „Le bon sens est la chose du monde la mieux partagée.“ – Der gesunde Menschenverstand ist das am besten verteilte Gut der Welt. Man spürt förmlich, wie Descartes sich in der selbstzufriedenen Gewissheit sonnt, mit dieser Gabe ohnehin ein wenig großzügiger bedacht worden zu sein als der Rest der Menschheit.

Was auf den ersten Blick wie ein Lob der Vernunft klingt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Manifest einer Selbstgenügsamkeit, die mit Echtheit wenig, mit intellektueller Einsamkeit aber alles zu tun hat. Descartes zog sich in die Dämmerung seiner Studierstube zurück, sezierte das eigene Denken bis zur letzten Silbe und schuf so ein Ich, das sich selbst genügt – und dabei die Welt, das Leben und die leisen Regungen des Herzens geflissentlich ausklammert.

Wer nach Authentizität sucht, wird in diesem Spiegelkabinett des Geistes kaum fündig. Der Zweifel war groß, die Gewissheit einsam – und das Resultat ein melancholischer Schatten, der bis heute als warnendes Beispiel für die Kunst gilt, sich selbst zu verlieren.

Gotthold Ephraim Lessing – Der Aufklärer mit Mut zur Wahrhaftigkeit

Kaum haben wir das 17. Jahrhundert mit seinem melancholischen Narzissmus hinter uns gelassen, treten wir ein in das 18. Jahrhundert – eine Epoche, in der das Licht der Vernunft selbst die dunkelsten Winkel der Gesellschaft zu durchdringen sucht. Hier begegnen wir Gotthold Ephraim Lessing, einem Mann, der mit Feder und Überzeugung die Wahrhaftigkeit zur obersten Maxime erhob.

Lessing, der Aufklärer par excellence, war kein Freund bequemer Wahrheiten. Wo andere sich mit dem Glanz der Konvention begnügten, forderte er das Recht auf Zweifel, auf Widerspruch, auf den offenen Diskurs. Seine Dramen und Schriften – allen voran „Nathan der Weise“ – sind ein einziges Plädoyer für Toleranz, für die Kraft der Vernunft und für die Echtheit des Herzens.

Mit feiner Ironie und unerschütterlicher Standhaftigkeit stellte Lessing die Frage, was einen Menschen wirklich auszeichnet: Nicht der Glaube, nicht die Herkunft, nicht der äußere Schein, sondern die Fähigkeit, sich selbst und anderen aufrichtig zu begegnen. Seine berühmte „Ringparabel“ ist mehr als ein literarischer Kunstgriff – es ist das Manifest einer Haltung, die auch heute noch als Prüfstein für Echtheit und Menschlichkeit taugt.

So, wehrte Herrschaften, zeigt uns Lessing, dass Authentizität nicht im lauten Bekenntnis, sondern im mutigen Beharren auf der eigenen Überzeugung wurzelt. Wer sich mit weniger als Wahrhaftigkeit zufriedengibt, hat das Licht der Aufklärung nie wirklich gesehen.

Von Ketten und Charakter – Die Psychiatrie entdeckt das Individuum

Nachdem die Aufklärung mit Lessing das Licht der Wahrhaftigkeit entzündet hatte, wandte sich das 18. Jahrhundert einer neuen, bislang vernachlässigten Sphäre zu: dem Schattenreich der „Verrückten“. Hier betrat ein Mann die Bühne, der mit aristokratischer Grandezza und Sinn für Gerechtigkeit die eisernen Ketten der Anstalten sprengte: Philippe Pinel. Er war es, der – man stelle sich das Staunen der Zeitgenossen vor – die Kranken nicht länger als Besessene, sondern als Menschen mit Erfahrungen, Bedürfnissen und einer eigenen Würde betrachtete. Sein englischer Geistesverwandter William Tuke gründete das „Retreat“ in York, wo erstmals nicht Zwang, sondern Respekt und Milde herrschten.

Authentizität war damals noch kein Modewort, doch die Idee, das Individuum ins Zentrum zu rücken, war geboren. Die Ketten fielen, das Menschliche kehrte zurück – ein leiser Triumph der Echtheit über das System.

Das 19. Jahrhundert – Wenn das Individuum zur Nummer wird

Doch wie so oft in der Geschichte, folgt auf den Fortschritt die Bürokratie. Mit Emil Kraepelin begann die große Systematisierung: Diagnosen, Tabellen, Statistiken – das Individuum verschwand hinter Schubladen und Symptomen, das „wahre Selbst“ wurde zur Randnotiz. Die Psychiatrie wurde zur Wissenschaft, der Mensch zur Nummer. Die Frage nach Echtheit und innerer Übereinstimmung? Sie geriet in den Hintergrund, übertönt vom Lärm der Klassifikationen.

Das 20. Jahrhundert – Die Rückkehr des Selbst

Erst mit Sigmund Freud und der Psychoanalyse wagte sich das „wahre Ich“ zurück auf die Bühne. Freud entdeckte das Unbewusste, die verborgenen Konflikte, die Masken und Abwehrmechanismen. Authentizität war zwar noch kein offizieller Begriff, doch die Idee, dass das wahre Selbst hinter gesellschaftlichen Erwartungen verborgen liegt, wurde zum Leitmotiv.

Mit der humanistischen Psychologie kam das Wort endlich zu Ehren: Carl Rogers forderte Kongruenz – die Übereinstimmung von Selbstbild und Erleben – als Voraussetzung für psychische Gesundheit. Abraham Maslow erhob die Selbstverwirklichung zum höchsten Ziel menschlicher Entwicklung. Wer authentisch lebt, so ihre Botschaft, kann seine Potenziale entfalten und ein erfülltes Leben führen.

Das 21. Jahrhundert – Authentizität zwischen Sehnsucht und Simulation

Heute, im Zeitalter der Selbstvermessung, ist Authentizität zum Forschungsgegenstand geworden. Michael Kernis und Brian Goldman messen sie, Ryan und Deci verknüpfen sie mit Selbstbestimmung, Neurowissenschaftler spüren ihr im Gehirn nach. Doch die Suche nach dem wahren Selbst ist schwieriger denn je. In einer Welt voller digitaler Spiegel und inszenierter Identitäten droht Echtheit zur seltensten aller Tugenden zu werden. Viele passen sich an, um Anerkennung zu ernten – und verlieren dabei das Wertvollste: den Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen und Werten.

Ausblick: Zwischen Maskerade und Selbstprüfung

So bleibt die Suche nach Echtheit – zwischen Maskerade und Selbstprüfung, zwischen Ironie und Ernst – eine der letzten großen Herausforderungen unserer Zeit. Wer sie annimmt, gewinnt vielleicht nicht den Applaus der Menge, aber gewiss das stille Einverständnis mit sich selbst. Und das, wehrte Herrschaften, ist in einer lauten Welt womöglich das Wertvollste.

Man möge mir die aristokratische Ironie verzeihen – sie ist in Zeiten des lauten Ernstes vielleicht das letzte Mittel, um auf das Eigentliche hinzuweisen und den Blick für das Wesentliche zu schärfen.

Literaturverzeichnis & Leseempfehlungen

  • Brant, Sebastian: Das Narrenschiff. Diverse Ausgaben.
  • Vogelweide, Walther von: Sämtliche Lieder. Hrsg. K. Lachmann, Reclam.
  • Aue, Hartmann von: Erec, Iwein und andere Werke. Reclam.
  • Wimpfeling, Jakob: Opera selecta. Hrsg. O. Herding, Fink.
  • More, Thomas: Utopia. Diverse Übersetzungen.
  • Montaigne, Michel de: Essais. Übers. H. Stilett, Hanser.
  • Descartes, René: Discours de la méthode. Diverse Ausgaben.
  • Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise & Aufklärungsschriften. Reclam.
  • Pinel, Philippe: Über die Geisteskrankheiten (1801).
  • Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. Fischer.
  • Rogers, Carl: Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Klett-Cotta.
  • Maslow, Abraham: Motivation und Persönlichkeit. Rowohlt.
  • Ryan, Richard M. & Deci, Edward L.: Self-Determination Theory. Guilford Press.



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